Klimaneutralität im Grundgesetz! : Ist Merz in eine Grünen-Falle getappt?
Experten streiten über die Folgen für unser Land
Eine ganze Nacht verhandelten die Grünen mit CDU-Chef Friedrich Merz und SPD-Chef Lars Klingbeil (47). Am frühen Freitagmorgen hatten sie es geschafft: Die grünen Fraktionschefinnen Katharina Dröge und Britta Haßelmann rangen der künftigen schwarz-roten Koalition riesige Klima-Zugeständnisse ab.
Denn Union und SPD brauchen die grünen Stimmen, um die Verfassung zu ändern und XXL-Schulden für Verteidigung und Infrastruktur möglich zu machen.
Die Erfolge der Grünen:
► Von den 500-Milliarden-Sonderschulden für Investitionen in Straßen, Schulen, Schiene werden 100 Milliarden direkt in den Klima- und Transformationsfonds (KTF) gebucht. Ursprünglich hatte Merz den Grünen nur 50 Milliarden fürs Klima angeboten. In der Nachtverhandlung musste er verdoppeln. Weil weitere 100 Milliarden an die Länder gehen, bleiben für Bundes-Investitionen in die Infrastruktur nur noch 300 Milliarden übrig.
► Zum ersten Mal wird das Ziel der Klimaneutralität bis 2045 ins Grundgesetz geschrieben. Klimaneutralität bedeutet: Wir dürfen nicht mehr Klimagase ausstoßen als Wälder, Moore und Ausgleichsmaßnahmen im In- und Ausland an Gasen einsparen.
Im Gesetzentwurf heißt es, dass die 500-Milliarden-Sonderschulden „für zusätzliche Investitionen in die Infrastruktur und für zusätzliche Investitionen zur Erreichung der Klimaneutralität bis 2045“ genutzt werden.
Diskussion im Bundestag: Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge (40) mit Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz (69)
Grüne und Klimaschützer triumphieren.
Kathrin Samson, Vize-Chefin der Naturschutz-Stiftung WWF Deutschland: „Das Verankern der Klimaneutralität bis 2045 im Grundgesetz trägt eine tiefgreifende symbolische und reale Bedeutung und wird künftigen Regierungen als verlässliche Orientierung dienen.“
Grünen-Ministerin Annalena Baerbock (44): „Unterschätzt niemals die Grünen. Jetzt wurde ein neues Kapitel grüner Politik aufgeschlagen.“
„Ein neues Kapitel grüner Politik“, jubelte Außenministerin Annalena Baerbock
Greenpeace-Vorstand Martin Kaiser: „Es ist ein gutes Signal für unser Land, dass die künftige Regierung jetzt gezielt in den Klimaschutz investieren will. Zu verdanken ist das den Grünen.“
Die Grünen Chef-Verhandlerinnen halten sich mit Siegesgeheul zurück. Denn sie wissen: Bei der Union herrscht teilweise blankes Entsetzen über den Preis, den Merz den Grünen gezahlt hat.
Und so versucht die Unionsspitze, die Aufregung in den eigenen Reihen zu beruhigen. Merz sagte BILD: „Auf das Jahr 2045 haben sich Bundestag und Bundesrat im Klimaschutzgesetz verbindlich geeinigt. Unsere Verabredung, das Grundgesetz zu ändern, ändert also an dieser Aufgabe nichts.“
Und CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt beschwichtigt, dass Klimaneutralität bis 2045 durch den Passus im Grundgesetz nicht zum neuen Staatsziel erhoben werde. Dies sei „schlichtweg abwegig zu behaupten“, sagte er BILD. Mit den Infrastruktur-Milliarden „kann zum Beispiel in neue Straßen“ investiert werden.
Und weiter: „Mit dem Infrastruktur-Sondervermögen kann zum Beispiel in neue Straßen, Krankenhäuser oder Wissenschaft und Bildung investiert werden. Auch neue Investitionen, die dem Erreichen eines Klima-Ziels 2045 dienen können, wie zum Beispiel der Aufbau des Wasserstoffnetzes oder die Elektrifizierung von Bahnstrecken, sind mit dem Infrastrukturpaket möglich. Aber daraus begründet sich kein Staatsziel.“
Die Nervosität ist so hoch, weil die Mehrheit für das XXL-Schulden-Paket wackelt. Union, SPD und Grüne haben im Bundestag nur 31 Stimmen mehr als nötig. Bis zur Abstimmung am Dienstag müssen potenzielle Abweichler in allen drei Fraktionen bearbeitet werden.
Und auch die Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundesrat ist nicht sicher. Sollte Bayern mit den Freien Wählern ausscheren, würde es eng bei der Abstimmung am Freitag.
Wird Merz mit seinem Schulden-Klima-Pakt zum grünen Kanzler?
Hinzu kommt: Am Zeitplan 2045 gibt es Zweifel. Zwei Drittel der kommunalen Unternehmen halten das deutsche Klimaziel 2045 für unrealistisch. Die Kosten seien zu hoch, die Finanzierung unklar. Allerdings erfolgte die Umfrage vor dem Beschluss für 100 Klima-Milliarden.
Uneins sind Experten, was die Klimaneutralität im Grundgesetz für Folgen hat:
► Wirtschafts-Professor Jan Schnellenbach (Uni Cottbus) warnt in BILD: „Umweltgruppen könnten dann gegen so gut wie alle Investitionen klagen. Jede Autobahn-Sanierung stünde auf der Kippe!“
► Verfassungsrechtler Prof. Josef Franz Lindner (Uni Augsburg) kritisiert: „Politische Detailziele in das Grundgesetz zu schreiben, ist dysfunktional. Es verpflichtet die staatlichen Organe, Ziele mit allen Mitteln erreichen zu müssen – unter Disruption von Wirtschaft und Gesellschaft. Das hätte desaströse Folgen.“
► Staatsrechtler Volker Boehme-Neßler (Universität Oldenburg) widerspricht: „Die Formulierung zur Klimaneutralität 2045 ist juristisch gesehen harmlos. Das ist keine Festlegung eines Staatsziels im Grundgesetz, sondern lediglich eine Etikettierung eines Teils der Investitionen. So erweist sich die anfängliche Aufregung als Sturm im Wasserglas.“
Die SPD übernimmt im Klima-Streit die Versöhnerrolle. Partei-Vize Achim Post (65) zu BILD: „Wir brauchen Investitionen in beiden Bereichen – in eine leistungsfähige Infrastruktur und in die Klimaneutralität. Wir tun das, ohne Infrastruktur gegen Klimaschutz auszuspielen.“
Was kein Politiker verrät: Entscheidend für die tatsächliche Verwendung der Extra-Schulden wird die Verteilung der Ministerien sein. CDU, CSU und SPD müssen in den Koalitionsverhandlungen klären: Wer wird Finanzminister (zuständig für die 300-Infrastruktur-Milliarden)? Hat der Wirtschafts- oder der Umweltminister Zugriff auf den Klimafonds?
Klar ist: Darum wird es heftige Machtkämpfe geben.